Eine gelingende Alltagsspiritualität, über die ich bereits mehrfach geschrieben habe, hängt mit einer menschlichen Fähigkeit zusammen, die oft übersehen oder unterschätzt wird: der Fähigkeit, Gottes Gegenwart körperlich wahrzunehmen und zu spüren. Ich höre und lese wenig darüber, dabei gibt es dieses Phänomen durch die gesamte Geschichte des Christentums hindurch in den verschiedensten Traditionen. Drei kurze Beispiele mögen genügen.
1) In ihrem Buch „Religious Experience and Its Transformational Power“ untersucht Sabrina Müller die religiösen Erfahrungen meist junger Menschen. Diese Erfahrungen machten sie oft in Alltagssituationen und an säkularen Orten, sie kamen unerwartet und überraschend. In diesen Erfahrungen spielten Emotionen und Körpergefühle (bodily sensations) eine zentrale Rolle, in Verbindung mit einer Deutung (interpretation) dieser Erfahrungen und daraus folgenden neuen Einsichten (cognitions). Solche Erfahrungen bedeuten für die Betreffenden: „Gott kommt zu mir“ oder „Gott ist da“ oder „Gott hat sich bemerkbar gemacht“ (God has made himself felt). (1)
2) Das zweite Beispiel stammt aus ein ganz anderen Richtung, der Welt der Asketen der syrischen Kirche. Man sagt den Asketen der alten Kirche Leibfeindlichkeit nach. Wo griechische Einflüsse eine Rolle spielen, lässt sich das tatsächlich feststellen. Die syrischen Väter kennen jedoch eine sehr große Wertschätzung des Körpers. Für sie „war der Körper ein göttlicher Tempel mit direktem Zugang zur himmlischen Sphäre. Seine Wahrnehmungsfähigkeiten und seine intuitive Weisheit offenbaren die innere Gegenwart Gottes, wo intellektuelle Bemühungen versagen“. „Die göttliche Realität kann nicht intellektuell begriffen werden. Sie kann ohne Mitwirkung des Verstandes erkannt werden … die körperliche Wahrnehmung Gottes bezeugt seine innere Gegenwart.“ (2)
3) In der Geschichte der erwecklichen, evangelikalen und charismatischen Bewegung (die meine Heimat ist) spielen körperliche Phänomene immer wieder eine wichtige Rolle, teils kritisch beäugt, teils hingenommen, teils gesucht. Betont wird jedoch, dass sie nicht das Eigentliche sind. Das stelle ich in Frage. Sie sind nicht das Ganze, aber sie gehören zum Eigentlichen, wie es in der Bibel bezeugt wird.
a) In der jüdischen Bibel: „Mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott“ (Psalm 84,3). „Es dürstet meine Seele nach dir, mein Leib verlangt nach dir aus trockenem, dürrem Land, wo kein Wasser ist“ (Psalm 63,2). Die Beter der Psalmen spürten die Freude an der Gegenwart Gottes auch körperlich, und wenn sie diese vermissten, verlangte ihr Körper nach einer erneuten Begegnung.
b) Im Neuen Testament sagte Paulus den Leuten in Athen: Die Menschen „sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten [körperlich spüren] und finden könnten“ (Apostelgeschichte 17,27).
Diese körperliche Wahrnehmung Gottes macht es möglich, wenn man in ihr geübt ist, beständig in der erlebten Gegenwart Gottes zu sein. Wir können nicht ständig an Gott denken, weil anderes unsere Aufmerksamkeit erfordert. Körpergefühle hingegen können dauerhaft zu spüren sein. Wenn etwas schmerzt, bleibt der Schmerz fühlbar, egal was wir sonst denken und tun. So kann auch die körperlich gefühlte Gegenwart Gottes uns durch den Tag begleiten, auch wenn wir an andere Dinge denken und uns mit ihnen beschäftigen.
(1) Sabrina Müller: Religious Experience and Its Transformational Power, de Gruyter 2023, S. 140.144f.
(2) Jill Gather: Teachings on the Prayer of the Heart in the Greek and Syrian Fathers, Gorgias Press 2014, S. 18.88.