Christliche Spiritualität kann enttäuschend sein oder hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, wenn das Anliegen, das wir mit ihr verbinden, nicht im Einklang mit Gottes Anliegen ist. Wir möchten, dass er in unserem Leben das zurechtbringt, was uns unangenehm ist, er möchte unser gesamtes Sein verwandeln. Wir suchen aufbauende Erfahrungen, er möchte uns in der Tiefe unseres Inneren mit seinem Wesen durchdringen. Um in Übereinstimmung mit seinem Anliegen zu kommen, kann ein Gebet aus den Psalmen uns helfen:

„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege“ (Psalm 139,23-24).

Mehr als von unserem eigenen Tun lebt Spiritualität davon, dass Gott uns ansieht und wir uns seinem Blick aussetzen. Wir stellen uns mit unserer ganzen Existenz vor ihn, nicht nur mit unseren Bedürfnissen und auch nicht nur mit unserer frommen Seite. Wir zeigen uns ihm mit allem, was uns ausmacht – ohne Zurückhaltung und Scham. Wir zeigen uns ihm so, wie wir uns keinem Menschen zeigen würden. Wir zeigen uns ihm so, wie wir uns niemand anders zeigen könnten, denn wir kennen uns selbst nicht tief genug. Wir bitten ihn: „Schau uns an und durchschaue uns!“

Wenn wir uns so vor ihn hinstellen, entdecken wir immer mehr die Kostbarkeit des Von-Gott-durchschaut-Werdens. Wir entdecken, dass sein Blick, der auf uns ruht, weder verurteilend ist noch verharmlosend. Dieser Blick ist die Wahrheit über unser Leben, gepaart mit Gnade. Und so, wie wir Menschen mit unseren Blicken nicht nur etwas wahrnehmen, sondern auch etwas mitteilen können, so ist es mit Gott. Wenn wir uns von ihm anschauen lassen, dann erfahren wir – vielleicht erst nach einiger Zeit –, wie er uns sieht. Manchmal ist sein Blick voller Anerkennung und Lob, so wie Jesus Nathanael sah und zu ihm sagte: „Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist“ (Johannes 1,47). Manchmal ist sein Blick überführend, so wie er Petrus nach dessen Verleugnung wortlos ansah und Petrus sofort anfing, über sich selbst zu weinen (Lukas 22,61-62). Manchmal sieht er in uns schon, was noch werden soll, so wie er bei der ersten Begegnung den Simon ansah und ihm sagte: „Du sollst Kephas (Fels) heißen“ (Johannes 1,42), denn ich sehe in dir schon den Felsen, der du erst in Zukunft sein wirst.

Diese Blicke von Jesus verändern unser Leben. Sie erfüllen die Bitte aus Psalm 139: „Leite mich auf ewigem Wege!“ Denn das ist seine Art, dies zu tun: „Ich will dich mit meinen Augen leiten“ (Psalm 32,8).

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