Ich liebe gebetete Theologie. Darunter verstehe ich, dass Theologen ihre Einsichten nicht nur in Form von sachlichen Abhandlungen weitergeben, sondern dass sie diese gelegentlich durch ein kurzes Lob oder Gebet unterbrechen oder sogar durchgehend als Anrede an Gott formulieren. Das wohl bekannteste Beispiel sind die Bekenntnisse des Augustinus (354-430 n. Chr.), aus denen ich vor einigen Tagen einen Abschnitt gepostet habe.

Andere sind seinem Beispiel gefolgt, darunter einer der größten Theologen des Mittelalters, Anselm von Canterbury (ca. 1033-1109 n. Chr.). Zu seinen wichtigsten Schriften gehört das „Proslogion“ (zu Deutsch: „Anrede“), das anspruchsvolle philosophisch-theologische Gedanken enthält, aber weitgehend in Gebetsform niedergeschrieben ist. Gleich im ersten Kapitel fordert er sich selbst auf, Gott zu suchen, und geht dann in die Anrede Gottes über (die deutsche Übersetzung von P. Franciscus Salesius Schmitt versucht, den lateinischen Sprachstil Anselms wiederzugeben):

Wohlan, jetzt, Menschlein,
entfliehe ein wenig deinen Beschäftigungen,
verbirg dich ein Weilchen vor deinen lärmenden Gedanken.
Wirf ab jetzt deine drückenden Sorgen 
und stelle zurück die mühevollen Geschäfte.
Sei frei ein wenig für Gott 
und ruhe ein bißchen in ihm.
Tritt ein in die Kammer deines Herzens,
halte fern alles außer Gott und was dir hilft, ihn zu suchen, 
und nach Schließung der Türe suche ihn.
Sprich jetzt, mein ganzes Herz,
sprich jetzt zu Gott:
Ich suche Dein Antlitz;
Dein Antlitz, Herr, suche ich.
Wohlan, jetzt also, Du mein Herr-Gott, lehre mein Herz,
wo und wie es Dich suche,
wo und wie es Dich finde. (1)

(1) Anselm von Canterbury: Proslogion. 1995 Friedrich Frommann Verlag · Günther Holzboog, S. 75

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