Seit ich als junger Christ begonnen habe, mich für die Geschichte des Christentums zu interessieren, haben die ägyptischen Wüstenväter (und ihre syrischen Kollegen) mich fasziniert. Sie sind für ihre strenge Frömmigkeit bekannt. Aber unter der rauen Oberfläche findet man viel Weichheit und Weitherzigkeit. Sie waren oft hart gegen sich selbst, aber milde gegen andere. Einige Beispiele.
Aus den anonymen Homilien, die [wohl fälschlich] dem „Ägypter Makarius“ zugeschrieben werden:
Darum sollen die Christen beständig danach streben, nie jemanden zu verurteilen – nein, nicht die Hure auf der Straße oder offene Sünder und Unordentliche –, sondern alle Menschen mit arglosem Sinn und reinem Auge zu betrachten. Es soll einem gleichsam zur zweiten Natur werden, niemanden zu verachten, niemanden zu verurteilen, niemanden zu verabscheuen und keine Unterschiede zwischen ihnen zu machen. … Das ist die Reinheit des Herzens: Wenn ihr Sünder seht, dann habt Mitleid mit ihnen und seid sanftmütig zu ihnen.
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Aus den Sprüchen der Väter:
Einige alte Männer kamen zu Abba Poemen und sagten zu ihm: „Wenn wir Brüder sehen, die bei der Synaxis [Versammlung der Mönche] schlummern, sollen wir sie aufwecken, damit sie wachsam sind?“ Er antwortete ihnen: „Wenn ich einen Bruder sehe, der schläft, lege ich seinen Kopf auf meine Knie und lasse ihn ruhen.“
Einige Väter fragten Abba Poemen: „Wenn wir einen Bruder sehen, der eine Sünde begeht, meinst du, dass wir ihn zurechtweisen sollten?“ Der alte Mann antwortete ihnen: „Wenn ich hinausgehen muss und sehe, dass jemand eine Sünde begeht, gehe ich weiter, ohne ihn zu tadeln.“
Von Abba Paphnutius wurde gesagt, dass er nicht gerne Wein trank. Eines Tages sah er sich auf der Straße einer Räuberbande gegenüber, die Wein trank. Der Hauptmann der Bande kannte ihn und wusste, dass er keinen Wein trank. Als er sah, wie müde er war, füllte er ihm einen Becher mit Wein und sagte zu ihm mit dem Schwert in der Hand: „Wenn du das nicht trinkst, werde ich dich töten.“ Der alte Mann wusste, dass er das Gebot Gottes erfüllte, und um das Vertrauen des Räubers zu gewinnen, nahm er den Becher und trank ihn. Da bat der Hauptmann ihn um Verzeihung und sagte: „Verzeih mir, Abbas, denn ich habe dich unglücklich gemacht.“ Der Alte aber sagte: „Ich glaube, dass Gott dir dank dieses Bechers jetzt und in der Zukunft gnädig sein wird.“ Da sagte der Räuberhauptmann: „Vertraue auf Gott, dass ich von nun an niemandem mehr etwas antun werde.“ So bekehrte der alte Mann die ganze Bande, indem er seinen eigenen Willen um des Herrn willen aufgab. [Vielleicht etwas überraschend für uns, dass er den Wein nicht trank, um sein Leben zu retten, sondern dass er sich aus Gehorsam gegen Gott über seine innere Festlegung und seine Skrupel hinwegsetzte, um dem Räuber Liebe zu erweisen und ihm Gelegenheit zu geben, etwas zu tun, wofür Gott ihn lohnen würde (nach Matthäus 10,42).]
Ein Bruder fragte Abba Sisoes und sagte: „Was soll ich tun? Wenn ich in die Kirche gehe, gibt es dort oft eine Agape [Liebesmahl] nach dem Gottesdienst, und sie nötigen mich, dabei zu bleiben?“ Der alte Mann antwortete ihm: „Das ist eine schwierige Frage.“ [Das Problem bestand darin, dass er seine Askese nicht einhalten konnte.] Da sagte Abraham, sein Schüler: „Wenn die Versammlung am Samstag oder Sonntag stattfindet und ein Bruder drei Becher Wein trinkt, ist das nicht viel?“ Der alte Mann sagte: „Wenn der Satan nicht dabei ist, ist es nicht viel.“