Ich habe inzwischen vieles über christliche Mystik gelesen. Darunter sind exzellente Darstellungen, und doch lassen viele von ihnen mich unbefriedigt. An einer entscheidenden Stelle greifen sie zu kurz: Sie beschreiben die Mystik vor allem unter dem Aspekt, was ihre Vertreter gedacht und geschrieben haben. Aber die großen Mystiker haben immer wieder betont, dass Worte und Gedanken nicht wirklich wiedergeben können, was zwischen Gott und ihnen geschieht. Der Anonymus – der unbekannte Verfasser der „Wolke des Nichtwissens“ vom Ende des 14. Jahrhunderts – schreibt in einem Brief an einen Schüler:

Könnte ein in Kontemplation Lebender ausdrücken, was er erfährt, alle Gelehrten der Christenheit würden vor seiner Weisheit verstummen. Alles menschliche Wissen erschiene im Vergleich dazu als reines Nichtwissen. Halte dich also nicht darüber auf, wenn mir die Sprachkraft fehlt, den Reichtum dieses Lebens im innersten Innern auch nur annähernd zu beschreiben. Gott bewahre uns davor, dass die kontemplative Erfahrung so oberflächlich werde, dass man mit menschlicher Sprache sie beschreiben kann. Das ist unmöglich und wird niemals möglich sein. Gott verhüte, dass ich das jemals versuchen wollte. Verwechsle also nicht die kontemplative Ubung der Versunkenheit mit den Worten, die wir darüber machen. Was sie ist, können wir nicht sagen, darum versuchen wir, sie zu umschreiben. Das verwirrt jeden stolzen Intellekt, besonders den deinen, für den ich ja schreibe.

Anonymus: Brief persönlicher Führung. In: Willigis Jäger (Hg.): Wolke des Nichtwissens. Der Klassiker der Kontemplation. 2016 Herder Verlag, S. 191-192

Der Weg der Mystik ist eine Zumutung. All unser Denken ist auf ihm nicht nur kein Vorteil, sondern kann ein schwerwiegender Nachteil sein. Das ist ärgerlich. Aber seit wann ist das Evangelium nicht ärgerlich für diejenigen, die etwas können und haben?! Es ist vor allem eine gute Nachricht für die, die nichts können und haben. Und solche sollen wir werden, das hat uns Jesus immer wieder eingeschärft. Auch die großen Mystiker haben dies betont. Sie sprechen davon, uns selbst (einschließlich unseres Denkens) zu „lassen“, in einer gewissen Hinsicht „zunichte“ zu werden. Der Anonymus beschreibt es so: In der kontemplativen Erfahrung steht eine „Wolke des Nichtwissens“ zwischen Gott und uns. Alles andere, auch all unser Denken, muss unter einer zweiten Wolke, der „Wolke des Vergessens“ verschwinden. Es bleibt nur die Regung der Liebe zu Gott. Und was sich dann an Innenerfahrungen ereignet, bleibt Gott überlassen und jenseits dessen, was wir mit sprachlichen Mitteln ausdrücken können.

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