Wenn Christen andere Christen bekämpfen, ist das vor allem eine Frage der Wahrnehmung. Was sehen sie im anderen? Was finden sie so schlimm, dass ihnen friedliche Koexistenz nicht möglich erscheint, sondern gewarnt und ablehnend Stellung bezogen werden muss. Damit sind wir beim Thema der „Geistlichen Unterscheidung“. Sie – und das mit ihr verbundene Charisma (1. Korinther 12,10) – hat in der Geschichte des Christentums eine wechselhafte Rolle gespielt. Zu manchen Zeiten und bisweilen auch heute war und ist sie ein Kampfbegriff. Christen verstehen dann darunter vor allem einen Fahndungsauftrag. Es gilt, Ketzer zu entlarven und den Bösen bzw. das Böse überall dort aufzuspüren, wo es sich versteckt hält. Nun ist es in der Tat so, dass die geistliche Unterscheidung auch zum Immunsystem des Leibes Christi gehört, durch die er sich vor wesensfremden Elemente schützt. Die meisten ihrer Funktionen liegen aber nicht hier. Die Discretio – so nannte man sie früher – befähigt uns, (1) das Gute auch da zu entdecken, wo wir es nicht erwartet hätten, (2) mit uns selbst und anderen gut umzugehen und (3) von der Bibel einen solchen Gebrauch zu machen, dass uns nicht ihr Buchstabe die Luft abschnürt, sondern ihr Geist uns Leben einhaucht.
Zitierte Literatur:
Anonym: Errores Gazariorum; in: Alan Charles Kors & Edward Peters (Hg.): Witchcraft in Europe, 400-1700. 2001 University of Pennsylvania Press
Johannes Nider: Formicarius (Handschrift)
Stefan Zekorn: Gelassenheit und innere Einkehr. Johannes Tauler und die innere Mystik. 2023 Ringvorlesung der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster.
MA-Lexikon: www.mittelalter-lexikon.de
Anonym: Von Unterscheidung wahrer und falscher Andacht; in: Lydia Wegener: Anthologie zur „Unterscheidung der Geister“. 2024 Walter de Gruyter
Aelred von Rievaulx: Treatises and the Pastoral Prayer. 2010 Gorgias Press
Die Regel des Heiligen Benedikt, In: Des Sulpicius Severus Schriften über den hl. Martinus. Des heiligen Vinzenz von Lerin Commonitorium. Des heiligen Benediktus Mönchsregel. (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 20). 1914 Verlag der Jos. Köselschen Buchhandlung
The Sayings of the Desert Fathers. Alphabetical Collection. 1984 Cistercian Publications
Johannes Tauler: Predigten. 1961 Herder Verlag
Origenes: De Principiis. Über die Grundlehren der Glaubenswissenschaft. 1835 Verlag Imle und Kraus, 1835
Catherine of Siena: The Dialogue of the Seraphic Virgin. 1896 Kegan Paul, Trench, Trübner & Co
Fragen zum Nachdenken und für ein Gespräch:
- Wonach beurteilst du Lehren und Praktiken, die dir begegnen?
- Hast du schon einmal die „Gnade Gottes“ bei Christen gesehen, denen du zuvor skeptisch gegenüber standest?